1.Teil / besondere Leseprobe von "Weil Du weißt wie glücklich geht"

.....In diesen Wochen kamst Du immer öfter mit kleinen Geschenken aus der Schule zurück. Ein älterer Mitschüler aus einer anderen Klasse war in Dich verliebt und bastelte in seiner Freizeit Herzen aus Holz für Dich, malte Bilder und schrieb Dir kleine Briefe, welche ich Dir vorlesen musste, da Du damals noch nicht lesen konntest. Es war einfach zuckersüß, was dieser Junge sich immer wieder Kreatives einfallen ließ, um Dein Herz für sich zu gewinnen. Als ich Dich fragte, ob Du diesen Jungen auch so magst, wie er Dich, war Deine Antwort klar und deutlich: <<Nein, Mama.>> Seine Ideen fandest Du klasse und Du hast Dich über jedes seiner Geschenke gefreut. Solch Umwerbungen sind ja auch toll und machen einem ein herrliches Gefühl im Bauch, auch ohne, dass man selbst verliebt ist. Ich fand diese Wochen einfach niedlich, obwohl ich, wenn ich Dir die kleinen Briefe vorlas, auch irgendwie das Gefühl hatte, dass ich mich in einem Deiner Bereiche bewegte, in den ich zur Wahrung Deiner Intimität als Deine Mutter gar nicht reingehörte. Doch in unserem Leben ist ja nun mal das ein oder andere anders, als bei einigen anderen Menschen und so war ich halt auch in solchen Momenten Deine vertraute Vorleserin.....

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.....So manches Mal musste ich mit anderen auch mal lauter schimpfen, weil sie nicht verstehen wollten, dass Du mittlerweile ein Teenager warst und eben viel mehr in Dir steckte, als nur süß zu sein. Auch, wenn ich Dir das nie erzählt habe, spürte ich, dass Du irgendwie wusstest, wieviel Power ich dafür manchmal brauchte, damit andere auch das in Dir sahen, was für mich schon lange klar war. Auch für Dich gab es nicht nur Veränderungen, die Du im ersten Moment gut fandest. Ich hatte in dieser Zeit auch immer den Mut, Dir Deine Grenzen klar zu machen, wenn Du in unserer Freizeit nur an Dich denken wolltest. Du fandest es nämlich, wie alle anderen Teenies auch, manchmal total doof, dass wir etwas unternahmen, wo Du gar keine Lust zu hattest, weil Du z.B. viel lieber zu Hause singen wolltest. Da knallten dann schon mal Dickkopf und Dickkopf aufeinander und irgendwie fanden wir das beide klasse, denn ich behandelte Dich auch darin wie einen normalen Teenager. Du testest nämlich bis heute super gern Dein Umfeld und spielst dann die Kleine und Hilflose oder machst Sachen, die Du eigentlich nicht darfst. Ganz viele fallen noch immer darauf rein und machen dann alles für Dich oder sagen mir: <<Ach, das ist nicht schlimm, Lea darf das.>> Ich finde das fatal, denn eines Tages wirst auch Du allen Menschen im Leben wesentlich erwachsener erscheinen. Dann musst Du Dich in der großen weiten Welt zurechtfinden, die eben nicht immer nur alles nach Deinen Wünschen auslegt und drauflosspringt, wenn Du das unter süßem Lachen sagst. Außerdem empfand ich das auch unfair Dir gegenüber, weil die Menschen Dich dann auf Dein sicherlich süßes herzliches Wesen reduzierten und Dich dadurch auch in vielen Dingen unterschätzten, wo doch so viele mehr in Dir steckte und noch immer steckt....

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.....In diesen Ferien nutze ich auch die schulfreie Zeit, um Kontakt zu einem Mitarbeiter der örtlichen Lebenshilfe aufzunehmen und wir verabredeten einen Gesprächstermin, bei dem Du mich begleiten durftest. Ich wusste durch die Erfahrungen anderer betroffenen Familien, dass man sich für manche spätere wohntechnischen Möglichkeiten für Dich bereits viele Jahre im Vorfeld bewerben muss, um dann auf einer Warteliste stehen zu können. In einem ausführlichen Gespräch mit ihm erzählte ich von Dir, aus Deinem Leben, was Du für Stärken hast, was Du bereits selbstständig konntest und wo Deine Behinderung und Dein Krankheitsbild grundsätzlich eine ständige Hilfe und Aufsicht unabdingbar machen. Hier und da hast Du meinen Erzählungen durch Kopfnicken zugestimmt oder auch das ein oder andere geantwortet. Wir erörterten gemeinsam, welche Unterstützung Du tagtäglich im Leben auch in Zukunft brauchst, um eines Tages ohne mich ein eigenes Zuhause zu haben, im Kreis von anderen Mitbewohnen, zu denen Du dann menschlich und in Anbetracht aller Besonderheiten passt und wo Du glücklich bist…..Als wir nach dem Gespräch wieder nach Hause fuhren, in dem Wissen, dass Du von nun an auf der Warteliste für verschiedene Wohnmöglichkeiten der örtlichen Lebenshilfe stehst, fühlte es sich für mich schon komisch an. Es war einer dieser Momente voller Wehmut, Stolz, Liebe und Vertrauen. Wehmütig fühlte ich mich, wie wohl viele Mütter bei dem Gedanken, dass das eigene Kind eines Tages auszieht und wirklich das eigene Leben lebt. Stolz war ich auf mich, weil ich den Schritt gegangen war, Dich auf solch eine Warteliste setzten zu lassen, weil ich Dir schon vor Jahren versprochen hatte, dass ich alles dafür tun werde, was nötig ist, damit Du eines Tages in Deine Zukunft, in Dein Leben gehst, wo Dein eigenes Zuhause auf Dich wartet. Liebe empfand ich in diesem Augenblick für Dich und für mich, weil ich eben auch den innigen Wunsch hatte und habe, eines Tages mein Leben voll und ganz zurück zu bekommen. Wenn nötig würde ich Dich selbstredend später mehrmals die Woche in Deinem späteren Zuhause unterstützen, um Dir so dort ein Leben zu ermöglichen, aber eben nicht mehr in der Funktion der täglichen 24-Stunden-Pflege, sondern auch in Abstimmung auf mein eigenes Leben und meinen Wünschen, Zielen und Gegebenheiten darin. Vertrauen empfand ich, weil ich in solchen Momenten immer weiß, dass zum richtigen Zeitpunkt alles da sein wird, was nötig ist, damit diese Wünsche realisiert werden können und alle glücklich sind.....

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.....Nachdem Du wieder daheim warst und wir den Koffer ausgepackt hatten, haben wir zur Unterstützung des Osterhasen erst einmal einige Eier bunt gefärbt, denn die Feiertage standen direkt vor der Tür. Der Osterhase hatte diese all die Jahre dann immer in der Nacht an den lustigsten Orten im Haus versteckt und seine bekannte Spur mit Schokokäfern gelegt. So natürlich auch in diesem Jahr. Nachdem Du alles gefunden hattest, haben wir gefrühstückt und Du wolltest natürlich zur Feier des Tages einen Schokokäfer als Nachtisch essen. Also hast Du das kleine Ding ausgepackt und herzhaft hineingebissen.  Plötzlich verzogst Du das Gesicht und meintest: <<Oh, hart, schmeckt nicht...>> Ich antwortete, dass Du es einfach wieder ausspucken kannst, was du auch prompt gemacht hast. Zu unserer Überraschung kam ein schokoladenüberzogener Backenmilchzahn zum Vorschein. Seit ca. 6/7 Jahren wartete ich darauf, dass endlich mal weitere Milchzähne von Dir das Weite suchten, doch irgendwie wollten die einfach nicht ausziehen. Stattdessen waren, wie schon erwähnt, einige wenige neue Zähne einfach direkt hinter den Milchzähnen herausgewachsen, sodass Du teilweise quasi eine 2.Zahnreihe hattest. Doch am Ostersonntag war es dann endlich soweit. Den neuen Backenzahn konnte man sogar schon sehen. Du warst allerdings seit dem Tag der Meinung, dass der Osterhase Dir dieses Jahr neben Schokolade auch einen Zahn gebracht hatte. Alle Erklärungen von mir zu dem, was da wirklich passiert war, wolltest Du nicht hören. Nein, Dein Osterhase hatte Dir dieses Jahr auch einen Zahn gebracht. Ich konnte vor Lachen kaum noch weiter frühstücken. Dieser Zahn sorgte dann auch dafür, dass Du von der Schokolade danach nichts mehr essen wolltest, weil Du Sorge hattest, dass da womöglich noch mehr Zähne drin steckten. In den folgenden Tagen entdeckte ich bei Dir beim Zähneputzen einen weiteren wackeligen Milchzahn, der es sich mit dem Herausfallen jedoch wieder anders überlegte. Deine Zähne waren echt ein Phänomen, bei deren Langlebigkeit nicht nur wir beide, sondern auch unser Zahnarzt bei unseren regelmäßigen Kontrollen immer wieder überrascht war. Immerhin warst Du mittlerweile 15 Jahre alt und hattest erst 4 Milchzähne verloren und alle noch verbliebenen schienen nicht im Traum daran zu denken, von dannen zu ziehen. Da Du aufgrund Deiner vielen Krankenhaus-erlebnisse aus Angst niemanden wirklich an Deine Zähne herangelassen hast und eine Mitarbeit für irgendeine Art von Therapie zur Richtung Deines Gebisses von Dir nicht gegeben war, blieb alles so wie es war....

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.....Während wir darauf warteten, dass alle Gepäckstücke in die Busse verstaut wurde, fiel mir wie schon früher auf, dass die meisten Kids zusammenstanden und miteinander agierten, während Du allein etwas Abseits gewartet hast, aufgeregt versunken in Selbstgespräche über die kommenden Tage. In solchen Momenten fragte ich mich oft, ob Du in Deiner zum Teil eigenen Welt eben trotz aller sozialer Kontakte auch eine Einzelgängerin bist oder ob Du dies evtl. von mir abgeschaut hast und nachlebst. Obwohl ich ein offener Mensch mit sozialen Kontakten bin, mit sozialen Aktivitäten und einem sozialen Beruf, war ich noch nie ein echter Gruppenmensch. In meiner Kindheit und Jugendzeit war ich kein Bestandteil einer festen Clique, sicherlich bedingt durch die unzählig vielen schwerwiegenden und sehr ungesunden Lebensumstände und vielen wohnlichen Veränderungen, denen ich in dieser Zeit ausgesetzt war. Da war Alleinsein ein Schutzmechanismus, der für mich noch immer in meinem inneren Konstrukt spürbar ist und den ich bedingt benötige, um mich auch heute noch als erwachsene Frau sicher zu fühlen. In Gruppen, in denen ich auf Menschen treffe, die ich nicht kenne, wird man mich meist abseits finden, beobachtend, vorsichtig oder inmitten von Kindern z.B. bei Klassenfesten, denn im Zusammensein mit Kindern fühle ich mich frei und sicher. Wenn ich Dich Abseits stehend beobachtete, wirktest Du glücklich, frei, lebendig, während Du Dir das Geschehen und die anderen Menschen darin quasi selbst erklärt hast. Und wenn Du soweit warst, dann bist Du auch in den direkten Kontakt mit anderen gegangen und hast diesen genossen. Doch Du hast Dir auch stets Zeiten des Rückzugs für Dich allein genommen. Vielleicht machte ich mir darin auch einfach zu viele Gedanken, weil Du eben schon immer in Deiner Persönlichkeit so warst und es für Dich alles sehr gesund und richtig erschien, ebenso, wie es sich für mich schon immer richtig und gesund anfühlte, trotz aller gelebten Offenheit auch eine Einzelgängerin zu sein, die eben nur eine Handvoll Menschen wirklich tief in ihr Innerstes hineinlässt und hin und wieder vorhandenes Alleinsein als gefühltes Auftanken und Reinigen empfindet. Und während ich bei Deiner Abfahrt über all das nachdachte, sah ich Dich in meinem inneren Bild lächeln und wusste, dass alles gut ist wie es ist und in diesem Augenblick in mir aus einem komisch-komisch ein gut-komisch wurde....

 

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